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So gräbt man heute tiefer im Fremden


Alte und neue Musik aus China beim MaerzMusik-FestivalFasziniertes Nicht-Verstehen ist die produktivste Geisteshaltung überhaupt. So mag Claude Debussy einst auf der Pariser Weltausstellung vor den javanischen Gamelan-Orchestern gestanden und über die Rhythmik, Skalen und Klangfarben ihrer Musik gestaunt und etwas darin gesehen haben, das sein eigenes Komponieren ungeahnt bereichern konnte. Mit ähnlichen Gefühlen der Neugier mag man am Freitag die "Lange Nacht der chinesischen Musik" besucht haben, eine Veranstaltung der MaerzMusik. Im Konzertsaal der Universität der Künste erklang zunächst neue Musik aus China für westliche Instrumente, dann traditionelle und neue Musik für chinesische Instrumente von chinesischen und europäischen Komponisten.
Man wittert den Geist globaler Fusion, nur unterliegt dieses Bedürfnis des Brückenschlages sofort restriktiven, kunstmoralischen Bestimmungen. Denn will man die Dinge miteinander in Verbindung bringen, droht sofort die Unterwerfung des einen unter die Herrschaft des Anderen: Geistige Kolonialisierung, wie sie im europäischen Exotismus des Fin de siècle gang und gäbe war, der sich die würzigen Reize aus der Fremde geraubt und dem westlichen Musikdenken eingefügt hat. So will man heute nicht vorgehen und gräbt tiefer in der Geschichte und Philosophie des Fremden.
Je mehr man versteht, desto weniger wird man Kulturkreise verbinden können. Der Komponist Christian Utz formuliert anlässlich seines Stücks "Interference" für Klavier und chinesische Instrumente, dass der in der Besetzung vorliegende kulturelle Unterschied "eine dialektische Vorgehensweise" nahelege, "ein Pendeln zwischen einer Reduzierung dieser Gegensätzlichkeit und ihrer Betonung". Tatsächlich aber sollen sich "Nähe und Distanz in einem ständig oszillie- renden Energiezustand auflösen".
In der Tat wirkt die Komposition energisch, zugleich aber auch etwas grau. Die zuweilen richtungslos wirkenden Arabesken im Klavier erinnern an Entwicklungen, die den alten europäischen Zeitbegriff in Frage gestellt haben: So hatte Debussy die Kadenz ausgehebelt, jenen Harmonieschritt, der immer zum Schluss strebt, während Schönberg musikalische Zusammenhänge in der Zwölftontechnik verräumlicht hat als Rückläufigkeit und Umkehrung einer Grundgestalt.

Die Aufhebung des Zeitgefühls gehört zur Absicht dieser Musik.

Beim Hören von zwei Stücken traditioneller chinesischer Musik, gespielt vom China Found Music Workshop, machte man ähnliche und doch ganz andere Erfahrungen: Hier ist es ein pentatonisches Tonmaterial, das sich "unverständlich" in die Zeit erstreckt. Die Aufhebung des Zeitgefühls gehört zur Absicht: Der Hörer soll nicht versuchen, die ablaufenden motivischen Informationen in einem Zusammenhang aufzuheben; er soll das Kreisen der Musik erleben - seine Aufmerksamkeit wird festgesetzt durch das Hören des kaum variierten Immergleichen.
Mit Abstand das fesselndste Stück von denen, die das Nieuw Ensemble Amsterdam spielte, war "Fan II" von dem 1993 jung verstorbenen Komponisten Mo Wuping. Verschiedene Klangfelder waren in ihrer Kontrast-Beziehung zueinander durchaus als Material im westlichen Sinn aufzufassen; die lockere Art ihrer Verknüpfung, ihres Wiederaufgreifens und Fortspinnens unterlief jede Form von Zielstrebigkeit. Mag der in seiner Heimat und in Paris ausgebildete Komponist auch gar keine große Fusions-Strategie im Sinn gehabt haben, so entsprach dieses Stück dem Gedanken eines kulturellen Brückenschlages doch viel eindrücklicher als andere, die das in ihren Konzeptionen wortreich beabsichtigten, indem es tatsächlich zweiseitig lesbar war: Von Osten und von Westen.

Peter Uehling, Berliner Zeitung, 11.03.2002



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